Jos Schmid Zürich
Die Daguerreotypie und ihr Bezug zur Gegenwart
I
Die Daguerreotypie war das erste praktikable fotografische Verfahren. Es wurde 1839 von Louis J. M. Daguerre zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt und erlebte dann während etwa 25 Jahren eine Blütezeit. Eine Daguerreotypie wird erstellt, indem man eine reine Silberoberfläche spiegelglatt poliert und sie anschließend mit Iod- und Bromdämpfen lichtempfindlich macht. Dann wird sie in einer Kamera belichtet. Die belichteten Stellen werden mit Queck- silberdämpfen amalgamiert. Das Bild wird fixiert und anschließend mit Gold veredelt.
Die Daguerreotypie wurde in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts aus praktischen und finanziellen Gründen von verschiede- nen Negativverfahren abgelöst. Die neuen Techniken erlaubten eine preiswertere Produktion. Durch das Negativ als Zwischenstufe konnten Fehler korrigiert und Manipulationen vorgenommen werden. Auch wurden große und unlimitierte Abzüge möglich. Inzwischen hat die digitale Fotografie die analoge abgelöst. Bilder können virtuell übermittelt werden, die Prints werden immer grösser und die Vervielfältigung immer unkontrollierbarer. Die Haltbarkeit der Daten ist ungewiss und stellt schon heute die Archive vor große Probleme.
Die Daguerreotypie steht zur digitalen Fotografie als radikales Gegenteil:
Sie ist ein Unikat, weil eine Silberplatte ohne Zwischenprodukte bis hin zur fertigen Daguerreotypie veredelt wird. Sie scheint bei sorgfältiger Herstellung das haltbarste fotografische Material zu sein; sie besteht allein aus Kupfer, Silber, Amalgam und Gold. Die ersten Daguerreotypien sind noch immer in tadellosem Zustand.
Während heute das digitale Fotografieren kostenmässig kaum mehr ins Gewicht fällt, ist die Daguerreotypie aufgrund der Rohstof- fe sehr teuer. Ihre Herstellung ist heikel, launisch und braucht viel Zeit. Mehr als ein Dutzend Faktoren beeinflussen ihre Qualität. Zu große Abweichungen führen zu keinem sichtbaren Resultat. Dennoch ist beeindruckend, wie wenig Abfall beim Erstellen einer Da- guerreotypie anfällt. Wenn eine Daguerreotypie misslingt, kann die Silberplatte neu poliert und wiederverwendet werden.
Eine Daguerreotypie mit relativ kurzen Belichtungszeiten muss vor Ort vorbereitet und verarbeitet werden. Das heißt, alle Schritte, vom Polieren, Lichtempfindlichmachen, Belichten, Entwickeln und Fixieren müssen unverzüglich ausgeführt werden.
II
Eine Daguerreotypie hat die Eigenschaft spiegelverkehrt zu sein. Es ist heutzutage schwierig zu beurteilen, welche Portraits spiegelverkehrt aufgenommen wurden und welche nicht. Manchmal sind die Knöpfe der Kleider ein Erkennungsmerkmal. Ich erachte das spiegelverkehrte Bild als ein Handicap der Daguerreotypie. Um eine wahrheitsgetreue Abbildung zu bekommen, muss man erst in einen Spiegel fotografieren. Dies hat den lustigen Effekt, dass die Kamera quer zur „Schussrichtung“ steht.
Die Qualität einer Daguerreotypie lässt sich nur schwer be- schreiben:
Ihr optischer Reiz besteht darin, dass die Lichter aus Amalgam bestehen, das wie Puderzucker auf der spiegelnden Oberfläche liegt. Die Schatten sind ein Spiegel. Schwarz ist also nicht materiell, sondern eine Projektion von Schwarz. Es ist somit nicht auf der gleichen Ebene wie das weiße Amalgam. Dies verleiht dem Bild eine wunderbare Tiefe.
Die Daguerreotypie in die heutige Zeit zu holen, ist aus meiner Sicht eine Folge der digitalen Entwicklung. Es entsteht ein neues Bedürfnis, das „Wunder der Fotografie“ von Grund auf und von Hand herzustellen.
Auch wird die Essenz des Mediums Fotografie durch die Unmöglichkeit der Manipulation nach der Aufnahme wieder ver- deutlicht: die Gleichzeitigkeit von Licht, Perspektive und physischer Realität; jene Eigenschaften des Mediums, welche uns immer noch dazu verleiten, einen Bezug zwischen Wahrheit und Fotografie herzustellen. Eine Daguerreotypie ist also zum Zeitpunkt der Aufnahme zwingend in der Kamera und ist deshalb ein reines Original.
Durch die einfache Reproduzierbarkeit und Manipulation der modernen digitalen Fotografie befinden wir uns fotografisch in einem Zeitalter der „Styles“. Was einst die besondere Eigenschaft eines fotografischen Materials war, kann heute einfach digital gerendert werden. Die Daguerreotypie lässt sich nicht gut imitieren, weil sie ein direktes Positiv auf Metall ist.
Es ist jedoch heute möglich, die Daguerreotypie als Printverfahren einzusetzen. Man kann also mit einem anderen (einfacheren) Verfahren eine Aufnahme machen und diese Aufnahmen daguerreotypisch reproduzieren. Diese Tatsache schadet dem Ideal des reinen Originals. Eine historische Daguerreotypie ist nicht suspekt, weil es noch kein anderes Verfahren gab, das als Original gedient hätte.
III
Meine Motivation ein historisches Verfahren neu anzugehen hat nichts mit einer Begeisterung für vergangene Zeiten zu tun. Sie be- ruht eher auf einem Unbehagen gegenüber der digitalen Bildentstehung. Wie oben erwähnt, wurde das Aussehen eines Bildes in der analogen Fotografie im Wesentlichen durch einen Prozess – durch ein eingeübtes Handwerk – bestimmt. Die digitale Fotografie erlaubt es, einem Bild verschiedenste Aussehen zu geben, zweifelsfrei auch sehr faszinierende und schöne.
Allerdings wird das Aussehen einer digitalen Fotografie da- durch auch beliebig, es ist möglich innerhalb von Sekunden ein Bild zu verändern, was früher Tage im Labor benötigte. Das digitale Bild erleidet somit einen Autoritätsverlust, was etwas hilflos durch gigantische Formate und technische Perfektion zu kompensieren versucht wird.
IV
An dieser Stelle möchte ich meinen Begriff des autoritären Bildes präzisieren:
In den späten 1990er Jahren war ich leitender Assistent bei Ri- chard Avedon in New York. Seine Schwarzweissportraits waren aus- schliesslich auf einem neutralen, sauberen Hintergrund aufgenom- men. Diese technische Sauberkeit hat mich als angehender Fotograf fasziniert. Allerdings war gerade die organische Lichtführung, die wir von Hand „und der Emotionalität des Augenblicks entsprechend“ gemacht haben dafür verantwortlich, dass die Bilder eine schöne Tiefe erreichten ohne technisch aufdringlich zu wirken. Aus meiner Sicht war diese Technik die Grundlage, um den Portraits ihre glaubwürdige und dennoch evozierte Emotionalität zu verleihen.
In der Dunkelkammer versuchte ich dann das Bild zu optimie- ren, voller Zweifel, ob meine Entscheidungen bezüglich Helligkeiten und lokalen Kontrasten die richtigen wären. Immer wieder ging mein Blick zurück auf den Kontaktabzug, auf dieses kleine rohe Bild,
auf dieses unveränderte erste Positiv, das mir zu sagen schien: „Schau hin, so bin ich wirklich, ich bin die Summe aller fotografischen Entscheidungen und Zufälle im Augenblick der Aufnahme!“ Das ist es, was ich unter der Autorität des Bildes verstehe.
V
Wenn ich dann mit einem Print an einen Punkt gelangt bin, an dem ich nicht wusste, ob ich nun fertig sei oder aber die Hilfe des Meisters benötigte, so bin ich in den oberen Stock gegangen und habe Avedon das Bild gezeigt. Die Antwort des Meisters lautete einst: „He looks German!“ Das war typisch für sein Feedback. Er gab nie technische Anweisungen nur emotionale; nicht aus Unvermögen sondern aus Respekt dem Handwerker gegenüber. Er wollte, dass der Printer wei- terhin seine Fähigkeit ins Bild einbringt. Ich habe das erst viel später wirklich verstanden.
Was sollte ich nun ändern, wenn der portraitierte Amerikaner zu „deutsch“ aussah?
Ich ging davon aus, dass Avedon als Fotograf mit jüdischer Ab- stammung, Jahrgang 1923, mit dem Deutschen etwas Hartes und Unerbittliches assoziierte. Also printete ich etwas weniger ambitiös und war dann gespannt auf den direkten Vergleich mit dem ersten Abzug: Der Meister hatte recht, das neue Bild war besser.
Diese Erfahrung wäre im digitalen Zeitalter unmöglich. Am Computer hätte ich direkt die Anpassungen mit dem Meister vorge- nommen ohne wieder für eine Stunde im Labor zu verschwinden. Für mich ist es fast unmöglich eine Erfahrung am Computer zu machen. Ich werde am Computer weder überrascht noch erschüttert. Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass ich für eine tiefgreifende Erfahrung Körper und Geist einsetzen muss.
VI
Mittlerweile arbeite ich schon seit 19 Jahren am Computer mit Pho- toshop. Ich liebe die Möglichkeiten für meine kommerzielle Arbeit und ich könnte nicht mehr darauf verzichten. Es freut mich, dass dank der digitalen Fotografie jeder Mensch fähig ist zu fotografieren. Für den Fotografen genügt es nicht mehr, ein perfekt belichtetes Bild zu machen, um sich von der fotografierenden Masse zu unterschei- den. Dennoch hat sich die Essenz des Fotografierens nicht gross verändert. Ein gutes Bild führt immer noch über das Erkennen von Licht, Perspektive und Ausschnitt im entscheidenden Augenblick.
VII
Es gibt fotografische Verfahren, die in ihrer Qualität nicht digital simuliert werden können. Die Daguerreotypie mit ihren erwähnten Eigenschaften gehört dazu aber auch zum Beispiel die Interferenzfotografie oder das analoge Hologramm erfordern eine physische Präsenz, die sie zum Objekt werden lassen. Ich bin der Ansicht, dass diese Herstellungsverfahren gepflegt werden müssen weil sie unsere Wahrnehmung erweitern.
VIII
Das Ausüben der Daguerreotypie war für mich ein Schritt aus der digitalen Bevormundung. Ich wollte einzig mit Wissen und handwerklichen Fähigkeiten ein Bild herstellen können. Dabei habe ich alle Apparaturen mehrfach konstruiert und zusammen mit dem Chemiker Prof. Roger Alberto zahllose Versuche gemacht. Wir wollten aber nicht die überlieferten Geräte und Arbeitsschritte direkt übernehmen, sondern wollten ein bergtaugliches System entwickeln. Jede Erstellung einer Daguerreotypie ist immer noch ein schwieriger Vorgang mit offenem Ausgang und jede gelungene Daguerreotypie ein Geschenk.
IX
Das Daguerreotypieren von Gletschern ist extrem aufwendig. Die Saison erstreckt sich von Juli bis September. Dann ist das Umland schneefrei und die Temperaturen in alpiner Höhe warm genug. Das gesamte Labor muss mitgenommen werden, da man die Silberplatten vor Ort sensibilisieren, belichten und entwickeln muss. Dazu müssen etwa 60 kg Ausrüstung auf den Berg getragen werden. Nur jede zweite Expedition ist erfolgreich. Oftmals machen Witterung und Wind, der Kampf mit dem Dampfdruck und der Temperatur einen Strich durch die Rechnung. Wenn das Bild aber gelingt, so ist das ein grosser Moment. Vielleicht ist diese qualvolle Form der Foto- grafie gleichwohl Performance und Ritual als Reaktion auf das Ab- schmelzen unserer Gletscherwelt. Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich ist es der Drang, ein Handwerk mit grosser Hingabe auszuüben.
X
Grundsätzlich definiere ich meine künstlerische Fotografie im Por- trait. Ich bin fasziniert von dieser Form der Fotografie weil sie momentan und unberechenbar ist. Es ist mir sehr wichtig, ohne Horizont zu arbeiten und ohne konkreten Hintergrund. Ohne Horizont wird meine Perspektive einzig an der Person reflektiert. Mit meiner Lichtführung versuche ich die Tiefe des Bildes aus dem Körper herauszuarbeiten und dies in einer Weise, die meinem Bild dieser Person gerecht wird.
Mit der geblitzten Belichtung kann ich dünne Scheiben durch die Zeit schlagen und die evozierte Emotionalität genau festhalten. Der Ausschnitt wird so knapp wie nur möglich gewählt, um ein späteres Beschneiden zu verhindern. Diese Arbeit hat sich mit dem Wandel in die digitale Fotografie kaum verändert. Die entscheidenden Faktoren blieben dieselben. Einzig die sofortige Bildgebung empfinde ich beim Portraitieren als störend. Sie verleitet einen dazu das Portrait aus dem ersten Abbild heraus zu gestalten – wie ein Stillleben. Meiner Meinung nach irritiert dies sowohl den Portraitierten als auch den Fotografen und vor allem vernichtet es das blinde Vertrauen.
Obwohl ich schon einige daugerreotypische Portraits gemacht habe fühle ich mich durch die langen Verschlusszeiten handicapiert. Sie gehen auf Kosten der Explosivität.
XI
Beim Gletscher-Daguerreotypieren fallen alle diese Aspekte weg. Meine Sicht auf die Gletscher muss eine objektive, eine Totale sein, weil die entscheidenden Inhalte bereits gegeben sind. Die erschütternde Gletscherschmelze von etwa 1 Meter Eisdicke pro Jahr
hatte zum Beispiel 2011 zur Folge, dass der Rosegggletscher 1300 Meter kürzer wurde!
Hatte ich zu Beginn dieser Arbeit noch geglaubt, dass ich alle Zeit der Welt hätte die Alpengletscher aufzunehmen, so wurden die letzten zwei Jahre bereits zum Wettlauf gegen die Zeit. Durch den markanten Rückzug der Gletscherzunge wurde dieses Sujet nicht zur zeitlosen Naturaufnahme sondern eine Momentaufnahme. Es spricht für die fotografische Qualität einer Aufnahme, dass man den Aufnahmezeitpunkt ohne Bildlegende aus der Fotografie lesen kann.
Fast im Widerspruch dazu steht das archaische Aussehen einer Gletscherdaguerreotypie. Sie strahlt vor Autorität, dass man glaubt einen Gletscher auf dem Bild zu sehen, der schon längst verschwunden sei. Wie ein Abgesang aus der Zukunft. Wie ein Mythos zu Lebzeiten.
Jos Schmid und Roger Alberto mit 4x5 Inch Kamera vor dem Morteratschgletscher © Björn Allemann
SRF Kulturplatz Reportage: Gletscherdaguerreotypie:
Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7753-4190-3
Der Badegast 2016 Daguerreotypie Wässerung einer Polaroidemulsion der Hinterrheinquelle in den Gewässern des Vorderrheins